Über die Gleichberechtigung im Alltag «Es ist ein Mädchen»

Gesellschaft

Man kennt das ja, oder? Geh ich mal ungeschminkt aus dem Haus, heisst es: «Bist du krank? Du siehst so müde aus!». Kurze Haare: «Ach, mir gefiel's einfach besser vorher. Jetzt siehst du so unweiblich aus.»

«Save the Women»-Proteste in Warschau, Oktober 2016.
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«Save the Women»-Proteste in Warschau, Oktober 2016. Foto: Konto na chwilę (CC BY-SA 4.0 cropped - colored)

31. Oktober 2017
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Korrektur
Zum Vorstellungsgespräch: Besser drei Stunden vorher mit den Vorbereitungen beginnen, damit nicht nur die Garderobe, sondern auch das Make-up, die Frisur, der Schmuck, die Fingernägel, das Parfum und die unbequemen Stögelis sitzen – Skills und CV hin oder her. Bei der Coiffeuse werde ich gefragt, wieviel Zeit ich bereit bin, morgens in meine Frisur zu investieren. Die Antwort «eine Minute» führt dazu, dass sie mich mitleidig-irritiert anschaut und mir zu verstehen gibt, dass das so nie etwas wird mit meiner Erscheinung.

Ein bisschen Disziplin muss her, bitte! Und wieso bezahle ich eigentlich einen Hunderter und mein Kollege einen Fünfziger, wenn wir beide genau 45 Minuten beim Coiffeur sitzen und uns den Kurzhaarschnitt nachschneiden lassen? Klar, es zwingt mich niemand mit der Pistole, bei diesem ganzen Schönheitszirkus mitzumachen. Da ich aber trotzdem in dieser Gesellschaft aufgewachsen bin, ist das «ohne mich!» aber ziemlich schwierig, denn auch ich finde unrasierte Beine (leider!) potthässlich und habe das Gefühl, nachlässig, unweiblich, unattraktiv zu sein, wenn ich nicht mithalte. Also halt doch. Zähneknirschend – und die sollte ich vermutlich auch mal bleachen. Damit das Lächeln – das wichtigste Asset jeder Frau, nicht wahr? Lächel doch mal! – schön strahlend ist. Oh je.

Next. Die Mens bekommen, aber keinen Tampon dabei. Shit. Eigentlich ja kein Problem, eine andere Frau kann mir sicher einen geben. Aber Achtung, auf keinen Fall laut fragen! Nach einem Tampon (besser: einem «o.b.», das neutrale Codewort) wird diskret und leise gefragt, nie laut in der Runde. Die Übergabe findet dann auch wie ein Drogendeal statt: Möglichst unauffällig in der geschlossenen Faust. Damit niemand sieht, dass man die Periode hat. Überhaupt darf der Tampon als Symbol für die Mens nie sichtbar werden. Fällt er aus der Tasche: Peinlich. Deshalb nehmen viele Frauen gleich die ganze Tasche mit aufs WC. Der Faden hängt beim Bikini raus: Noch peinlicher. Blutflecken auf der Hose: Kill me already! Drum ist das «Blut» in den Bindenwerbungen wohl auch blau. Die Schmerzen und die Bluterei sowie die (hohen!) Ausgaben für Tampons, Binden oder Mooncups reichen ja. Da wäre es mehr als angebracht, man müsste sich nicht auch noch dafür schämen, dass man die Mens hat. Wäre. Müsste. Argh.

Und weiter. In Gesprächen und Diskussionen reden viele Männer mit einem Selbstbewusstsein, dass mir die Kinnlade runterfällt, während aus meinem Mund nichts kommt, wenn ich nicht mehrfach überprüft habe, ob das zu Sagende auch korrekt und relevant ist. Bei den Männerbeiträgen in den Uniseminaren dachte ich manchmal, dass ich für all die Typen kompensiere, die ohne Kontrolle jeden Gedanken für mitteilungswürdig halten. Minutenlang. Ungefragt. Dasselbe im Zug. Ich: die Beine überschlagen, Hände auf den Oberschenkeln, Jacke verstaut. Mann neben mir: breitbeinig, Jacke hängt halb auf meinem Sitz, Ellenbogen auf den Armlehnen weit bis zu mir rüber. Beim Pendeln nach Bern: Eine Dauererfahrung. Beschwer ich mich, bin ich die nervige übersensible Emanze, die sich wegen jeder Kleinigkeit aufregt und darf mich streiten. Sag ich nichts, ärgere ich mich eine Stunde lang. Win-win!

Oder an der Berufsschule. Da kommt ein Schüler nach der Stunde zu mir und erklärt mir, wie ich heute meinen Job gemacht habe. «Heute fand ich sie besser als letzte Woche. Sie müssen sich einfach mehr durchsetzen! Sonst wird das nichts. Sie sollten unterrichten wie Herr M., der macht das super! Aber Frau S., das kommt schon. Heute ging es doch!» Als ich einer anderen Lehrerin davon erzähle und sage, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass LehrER solche nett gemeinten, aber furchtbar herablassenden Assessments und Ratschläge über sich ergehen lassen müssen und dass das nervt schaut sie mich nur komisch an und findet: Ich habe noch nie erlebt, dass Lernende Lehrerinnen anders behandeln als Lehrer?! Klar. Weil Sexismus nur ist, wenn mir jemand «Frauen sind scheisse» ins Gesicht sagt. Ach je.

Next. Ich wurde vor ein paar Jahren massiv sexuell belästigt. Ich hatte dem Typen, den ich lose kannte, auf dem Nachhauseweg mehrmals explizit gesagt, dass ich nur bei ihm auf den Zug warten wolle – nicht, damit er falsche Erwartungen hätte. Er fände das super, dass ich das so direkt klarmache, sagte er mir ausdrücklich. Zu Hause drückte er mich an die Wand und steckte seine Hand in meine Vagina, als ich konsequenterweise immer noch nicht mit ihm schlafen wollte. Ich flehte ihn weinend an, aufzuhören. Der Vorfall galt im Bekanntenkreis zwar als bedauerlich, aber es wurde weiterhin munter mit ihm Zeit verbracht, ohne grosse Diskussionen. Cool. Aber wen wundert's, wenn eine Regierungspartei Witze über k.o.-Tropfen macht, Vergewaltiger wegen verpasster Karrierechancen gemilderte Strafen kriegen und Frauen selbst an Vergewaltigungen schuld sind wegen Kleidern, Alkohol, Aussehen oder was auch immer.

Überhaupt Sex. Da läuft so viel schief, z.B. die Oralsex-Asymmetrie. Dass ich ihnen eins blasen würde, war für die meisten Typen selbstverständlich, und falls ich es nicht von mir aus tat, wurde ich dazu angehalten. Leider steht die Anzahl Blowjobs, die ich gegeben habe, in absolut keinem Verhältnis zur Anzahl der Male, die ich geleckt wurde. Als Frau gehört der Blowjob zum Standardprogramm, als Mann hingegen bist du der Held des Jahres, wenn du eine Frau leckst: Den musst du halten! Schätze dich glücklich! What the hell! Nur schon der Fakt, dass jedes Primarschulkind weiss, was ein Blowjob ist, das weibliche Pendant aber nicht mal einen allgemein verbreiteten Namen hat, sollte einem zu denken geben.

Natürlich, in einigen Hinsichten sind Frauen in der Schweiz weniger arg dran als anderswo. Ich bin froh, darf ich Autofahren. Muss ich keine Burka tragen. Darf ich abstimmen — seit 1971 resp. 1990 schon! Verdiene ich nur 18% weniger als meine männlichen Mitarbeiter. Aber was ist mit all dem Rest, dem mal leisen und dann wieder doch ganz schön lauten Sexismus? Ich könnte noch so viele Anekdoten an diesen Text anhängen. Was sagt es über Pornos aus, dass es eine female friendly Kategorie bei Youporn gibt? Wieso gilt es als schwach, emotional zu sein? Wieso ist es das Ideal, Arbeit und Kinder unter einen Hut zu bringen, statt radikalere Ideen zu erträumen? Ich hoffe, dass mir eines Tages die Fragen und Anekdoten ausgehen.

25karat.net